Eva
Jeder Mensch ist außergewöhnlich. Bei manchen sieht man das an der Biographie.
Eva fing erst mit 54 Jahren an, Malerei als Beruf auszuüben. Insofern kann man sie als „Spätberufene“ sehen. Beschäftigt man sich aber näher mit ihrer Kunst, erkennt man, dass dies nicht stimmt. Denn eine Kunst, die die Lebensenergie aufnimmt und in eine künstlerische Form bringt, verlangt zuvorderst danach, sich dem Leben zu stellen und es an sich heranzulassen und nicht ihm auszuweichen. Und vielleicht ist das der charakteristischste Zug in Evas Leben, dass sie sich in allem was sie tut, schnellen Abkürzungen verweigert.
Evas Lebenslauf mag auf den ersten Blick durchaus konventionell erscheinen: Grundschule, Gymnasium, Abitur, Ergotherapeutin … später dann: Heirat, zwei Töchter, Eigenheim, … noch später: Universitätsdozentin, Unternehmergattin, Wohltätigkeit, … noch viel später: Enkelkinder… so weit so bürgerlich …
Dass es mit den bürgerlichen Konventionen tatsächlich aber nicht zum Besten steht, konnte man schon früh an ihrer Tourenliste sehen: Als 17-jährige mit Zelt und Rucksack durch Irland, ein Jahr später 28 Tage lang im Dauerregen durch die schottischen Berge, mit 19 vier schwere Touren in Skandinavien, darunter allein und querfeldein vom norwegischen Sulitjelma nach Kvikkjokk in
Schwedisch-Lappland sowie mit ihrem späteren Mann eine Durchquerung der Finnmarksvidda, die von Alta am norwegischen Eismeer bis an die russische Grenze in Nordostfinnland führte.
Bis heute verschafft sie sich über Reisen in die wilde Natur immer wieder neue Erlebnisse und Eindrücke, die oft auch für ihre Kunst wichtig werden. So hat sie z.B. in den letzten Jahren viele Sommer und einen späten Winter auf einer unbewohnten Insel im nördlichen Lake Superior verbracht, ist mit mongolischen Jägern durch den sibirischen Altai geritten (wobei die Reise bei +20 °C begann und bei -20°C endete) und hat die größte Dürre Namibias seit über 60 Jahren miterlebt. Ihren 50. Geburtstag feierte sie mit einer 1.300 km langen Wanderung auf dem Pacific Crest Trail durch Oregon und Washington.
Eva darf als durch und durch empirischer Mensch gelten. Alles ist Erfahrung, nichts ist Logik. Alles ist Tatsache, nichts ist Begriff. Alles ist Muster, nichts ist Konzept. Alles ist Wahrnehmung, nichts ist Bewertung. Es geht um Wirklichkeit, nicht um Wahrheit. Man kann verstehen, dass solch ein Mensch, wie Eva in jungen Jahren, Ergotherapie als Beruf wählt, die ja ein sehr praktischer Beruf ist, bei dem der empirische Befund im Vordergrund steht und erst in zweiter Linie theoretische Konzepte bedeutungsvoll werden. Aber Statistik und Testtheorie?
Das ist typisch für Eva: Mit 38 Jahren, als ihre beiden Töchter aus dem Gröbsten heraus sind, noch einmal zu studieren. Dann in dem trockensten und abstraktesten Teilgebiet der Psychologie, nämlich der Methodenlehre, zu promovieren um schließlich als Akademischer Rat die Psychologiestudenten der Ludwig-Maximilian-Universität München in Statistik und Testtheorie zu unterrichten. Warum hat sie das nur getan? Weil sie darin besonders talentiert war? Weil es ihr leicht viel? Nein, weil sie fand, sie habe im abstrakten Bereich Defizite. So ist das!
Nach 8 Jahren Lehre hängt sie ihren Beruf und die damit verbundene unbefristete Stellung an den Nagel und schreibt sich an einer privaten Kunstschule ein.
2020 zieht sie von Oberbayern, das 23 Jahre lang ihr Zuhause war, ans andere Ende Deutschlands, wo sie heute mit ihrem Mann auf einem ehemaligen Bauernhof lebt und arbeitet. Wenn es in Evas Leben eine Konstante geben sollte, so müsste sie wohl Entwicklung heißen. Und ja: Standards. Ihrer Überzeugung nach, muss man sich den Herausforderungen des Lebens nicht nur stellen, und die darin verborgenden Strapazen und Leiden annehmen, sondern sie in gewisser Hinsicht auch suchen. Man soll dabei offen auch für
radikale Änderungen sein, aber stets und vor allem auf seine innere Stimme hören (sie nennt das „auf den Körper hören“). Diese innere Stimme führte sie in immer neue Lebensumstände, ferne Länder, andere Berufe, wechselnde Wohnorte. Dass ihr Körper sie nur selten im Stich lässt, kommt ihr dabei hilfreich entgegen. Obwohl zierlich von Statur, ist sie das was die Amerikaner ein „tough cookie“, ein „zähes Plätzchen“, nennen. Eva konnte in jungen Jahren über weite Strecken 40 % ihres eigenen Körpergewichtes tragen und noch in ihrem sechsten Lebensjahrzehnt erregt die monströse Größe ihres Rucksacks die Bewunderung selbst der ambitioniertesten Wildnisgeher.
Ihre Begeisterung für extreme Charaktere wird von diesen erwidert. Sie findet sich unter einer rein männlichen Jagdgesellschaft in den Bergen Nordostkasachstans genauso gut zurecht wie unter traditionellen Taekwon-Do Kämpfern (eine Sportart, die sie zwei Jahrzehnte lang aktiv betrieb) oder auf einem von Frauen dominierten Reiterhof.
Die wirklich wichtigen Veränderungen und Entwicklungen sind aber innerer Natur. Und die lassen sich nicht beschreiben. Doch alles was man über Evas Leben sagen könnte, lebt in ihren Bildern, die mehr über sie erzählen als jede Biographie.
Friedrich Böbel, November 2022